Leseprobe
Die Maus im Fahrstuhl

Jeder Tag, egal ob das Arbeitspensum normal oder unerträglich hoch war, brachte etwas Neues. Einmal war es etwas Erheiterndes, ein anderes Mal etwas sehr Trauriges. So schauten wir oft mit gesenktem Kopf vor Anteilnahme und Mitleid auf den Fußboden, wenn wir keine Erklärung für ein schreckliches Ereignis fanden. Oft fehlten uns die Worte, um den Trauernden Trost zusprechen zu können. Denn den Verlust eines geliebten oder sehr nahe stehenden Menschen konnte man mit den gefühlvollsten Worten nicht mehr ersetzen. Der Krankentransport brachte heute einen schwer verletzten Patienten auf unsere Unfallstation. Nach seinem Sturz von einem Baugerüst hatte dieser Patient sein Bewusstsein verloren und es seitdem nicht mehr wieder erlangt. Drei Tage lag er im Koma und bekam über eine Infusion künstliche Ernährung, bis er seinen Verletzungen erlag. Das geschah am frühen Nachmittag. Zu diesem Zeitpunkt konnten wir die vielen anfallenden Arbeiten kaum schaffen. Alle Dienst habenden Schwestern versorgten die neu operierten Patienten, so dass kaum noch für einen anderen Patienten Zeit verblieb. Doch der verstorbene Patient musste unbedingt aus seinem Einzelzimmer in den Aufbewahrungsraum im Keller gebracht werden. So blieb Schwester Pitti nichts anderes übrig, als allein den Toten dort hin zu bringen. Auf der Leichentrage war der Verstorbene mit einem weißen Leinentuch bedeckt. So schob die furchtsame Schwester die Trage in den Fahrstuhl hinein. Nun begann die Fahrt in den Keller. Ihre Blicke durchsuchten jeden Punkt im Fahrstuhlraum. Als sie hinter sich schaute, sah sie plötzlich eine Maus ganz ängstlich in der Ecke sitzen. Da sie schon immer eine panische Angst vor Mäusen hatte, aber auch unter Platzangst in engen Räumen litt, bekam sie einen hysterischen Anfall. Sie schrie so laut, als ob sie aufgespießt würde: „Hilfe, rettet mich! Hilfe rettet mich!“ Ein Arzt hörte die verzweifelten Schreie der Schwester und drückte auf den Fahrstuhlknopf an der Verkaufsstelle im Kellergeschoss. Doch als sich die Fahrstuhltür öffnete, stand die schreiende Schwester oben auf der Leichentrage. Sie zitterte am ganzen Körper, kippelte mit den Füßen auf ihrer Standfläche und konnte sich nicht mehr beruhigen. Der Arzt, der sich gerade sein Vesperbrötchen holen wollte, musste erst die kleine Maus fangen, bevor die total verstörte und schreiende Schwester von ihrer erhöhten Position heruntergeholt werden konnte. Sie war nervlich völlig erschöpft. Schließlich konnte sie aus dieser peinlichen Situation gerettet werden. Der Verstorbene war plötzlich unwichtig geworden und blieb erst einmal im Fahrstuhl. Der Arzt führte die verstörte Schwester in den EKG-Raum, um sie zu untersuchen und um einen Herzinfarkt ausschließen zu können. Nach einem Anruf auf Station brachte ihr eine Kollegin ein beruhigendes Medikament, welches man ihr gleich vor Ort intravenös verabreichte. Nach mehr als zwei Stunden kam sie langsam wieder in die Normalität zurück. Wieder auf Station war sie nicht mächtig am Stationsablauf weiter teilzunehmen. So wurde sie nach Hause geschickt. Am nächsten Tag stellten wir ihr immer die gleiche Frage: „Wie bist du eigentlich auf die Trage gekommen?“ Aber sie antwortete jedes Mal: „Ich weiß es nicht. Ich war auf einmal oben und kann es mir auch nicht erklären wie.“ Viele Monate später sprach sie noch von dieser für sie schrecklichen Situation, aber wir lächelten nur darüber und dachten uns unseren Teil.


Die Chefin als Schriftstellerin

Buch 2
"Mein Leben war fast zu Ende, danach war mein Beruf mein Leben"